"Ist es harmlos, historisierend zu bauen?"
Ja! 52%
Nein! 48%
J. Michael Birn, "A Question of Lust - Der Berliner Lustgarten", 2007
Rekonstruktion und historisierendes Bauen sind diskursive Dauerbrenner, die nicht nur auf dem BKULT Weihnachtswunschzettel auftauchten. Auch in Berlin kochen diese Themen aktuell wieder hoch. Neben der nicht enden wollenden Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Schloss, dessen Grundstein im Juni gelegt werden soll, ist eine neue Debatte um Berlins gesamte „historische“ Mitte entbrannt. Für die meisten Architekten ist diese Debatte ein rotes Tuch. Lernen Architekturstudenten doch bereits im ersten Semester, sollten sie auf den Gedanken kommen, romanische Rundbogenfenster zu zeichnen oder eine italienische Plaza zu imitieren, dass man das Alte nicht kopieren darf und jede Gesellschaft die ihrer Gegenwart entsprechende Ausdrucksform finden muss.
Manche bezweifeln, ob dieses Mantra der Moderne noch gültig ist. Sie halten dagegen, dass sich die tabula rasa beim Wiederaufbau der deutschen Städte doch allzu oft als Irrweg erwiesen habe. Sind wir heute, nach dem vielbeschworenen Ende der Ideologien, nicht reif genug, unterschiedliche Identitätskonstruktionen auszuhalten? Sind ein paar wiederaufgebaute Schlösser und rekonstruierte Altstädte nicht also eher harmlos und im Interesse gesellschaftlicher Einheit sogar gut?
Auffällig ist der Graben zwischen den Architekten und der (gefühlten) Mehrheit der Bürger, also derjenigen, für die gebaut wird. Während die meisten Architekten sich bemühen, zeitgenössisch zu bauen, sind Neubauten im historisierenden Stil krachende Kassenschlager. Anstatt Leerstand gibt es Wartelisten. So sprach sich in Frankfurt ein Großteil der Bürgerschaft für eine Rekonstruktion des Hühnermarkts mit detailgetreuen Fassaden aus. Man ist sich einig: Das baukulturelle Erbe soll geschützt, erhalten und notfalls eben wieder aufgebaut werden, um die Identität unserer Städte zu bewahren – oder überhaupt erst wieder herzustellen. Moderner Architektur traut man dieses identitätsstiftende Potenzial kaum mehr zu. Entsprechend wird bereits seit einigen Jahren mehr und mehr „Altes“ wieder rekonstruiert oder gar neu aufgelegt.
Doch reichen Bürgerwille und Vermarktbarkeit als Legitimation für historisierendes Bauen aus? Und was genau ist aber der „Bürgerwille“? Anita Blasberg beschreibt in ihrem ZEIT-Artikel „Die schon wieder“ die Überalterung der deutschen Gesellschaft und wie die mächtige „Babyboomer-Generation“ (in Deutschland sind das die zwischen 1955 und 1969 Geborenen) durch ihre schiere Masse gesellschaftliche Positionen und Wertbilder auf Jahrzehnte besetzt. Was macht das mit einer Gesellschaft, fragt Blasberg, wenn die Generation der unter 45Jährigen bei der Produktion von Gesellschaft dauerhaft aufs Abstellgleis gesetzt wird? Und was macht das mit unseren Städten und Häusern? Ist die Sehnsucht nach dem Alten am Ende eine Sehnsucht der Alten? Zumindest gehören diejenigen, die überwiegend bestimmen, was, wo und wie gebaut wird, dieser „Babyboomer-Generationen“ an. Die meist älteren Befürworter einer historisierenden Architektur formieren sich mit Macht und machen ihr Geld und ihren Einfluss geltend, um ihre Überzeugungen in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Von den Jüngeren hört man dagegen immer weniger. Tolerieren sie also den historisierenden Trend im Sinne eines postmodern-permissiven „Anything goes“ oder sind sie demographisch bereits derartig in der Diaspora, dass ihre Vorschläge zur Gestaltung unserer Gesellschaft schlicht nicht mehr an die Oberfläche des Diskurses dringen?
Genau diese „Jüngeren“ werden sich aber mit den Konsequenzen jener gesellschaftlichen Entscheidungen auseinander setzen müssen, die andere heute für sie treffen. Sie werden zukünftig möglicherweise in Städten leben, in denen die Spuren der (Nachkriegs-)Moderne getilgt und durch rekonstruierte Strukturen einer urbanen Vorgeschichte ersetzt wurden, ohne Raum zu lassen für zeitgenössische Ideen und Bedürfnisse. Sie werden möglicherweise in Häusern wohnen, die vollkommen auf die Kleinfamilie ausgerichtet sind, obwohl dieses Modell schon heute nicht mehr die gesellschaftliche Realität widerspiegelt. Geht mit der demografischen Überalterung also auch eine kulturelle Überalterung unserer Gesellschaft einher? Ist es also wirklich harmlos, historisierend zu bauen?
Ja ...
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Aber es ist nicht harmlos, historisierend zu bauen, sondern notwendig.
• „Historisieren“ interpretiere ich als im Entwurf sichtbares Reflektieren der Geschichte von Orten, Menschen oder Institutionen. Gute Architektur zeichnet sich auch durch diesen „Mehrwert“ an Bedeutung aus.
• Historisierend“ ist nicht der Gegenbegriff zu „Zeitgemäß“. Manchmal ist es „zeitgemäß“ zu „historisieren“.
• Architektur sollte nicht despektierlich als „historisierend“ bezeichnet werden, wenn sie architektonisch ist, wenn sie sich also der entwurflichen Methoden der Architektur der letzten 4000 Jahre bedient. Es ist einfach und war in den letzten Jahren en vogue, Dinge zu designen, die sich in einen krassen Gegensatz zur Umgebung und zum Selbstverständlichen stellen. Die Fachwelt hat sich daran gewöhnt, der kurzfristigen Aufmerksamkeit fahrlässig mehr Bedeutung beizumessen, als dem langfristigen Erfolg von Architektur. Mir scheint, die erwähnte „gefühlte Mehrheit der Bürger“ ist sensibilisiert, weil die Methode des „shocking“ in der Architektur mittlerweile abgegriffen und als städtebaulich schädlich entlarvt ist.
• Städtebau und Architektur sind zwei verwandte Disziplinen, die aber nicht genug auseinander gehalten werden. Wenn man über die Rekonstruktion des Berliner Altstadtkerns spricht, ist das zunächst eine politische und städtebauliche Debatte, um Architektur geht es dabei nicht.
• Rekonstruktionen sind nicht, was „historisierende“ Architektur meint. Sie sind die Reaktion auf unbeabsichtigte oder ungerechtfertigte Zerstörung. Rekonstruktionen haben in allen Generationen stattgefunden - sie entstehen dort wo das Bedürfnis nach der bedeutenden Form übermächtig wird. Die offensichtliche Angst vieler Architekten davor, diesem Bedürfnis zu entsprechen, ist mir unverständlich.
• Die Gefahr heraufzubeschwören, dass eine kommende Generation sich nicht mehr entfalten kann, weil die heute aktive Generation plant und baut ist abwegig. Es war schon immer so, dass die „Jüngeren“ sich mit den Konsequenzen der Entscheidungen der „Älteren“ auseinandersetzen müssen. Das gehört zum Selbstfindungsprozess der Jüngeren, den zu unterbinden einen Verlust für diese darstellt.
• Ansichten über Architektur sind keine Frage des Alters, das zu meinen ist wahrscheinlich pubertär. So sehe ich auch den erwähnten Artikel von Frau Blasberg.
• Es gibt gute und schlechte Architektur. Gut ist sie, wenn sie nützlich, dauerhaft und schön ist.
Tobias Nöfer, geboren 1967 in Ahaus, Westfalen, studierte Architektur an der RWTH Aachen und ETH Zürich. In den 90er arbeitet er bei Prof. Oswald Matthais Ungers, Prof. Kollhoff & Timmermann und Bernd Albers. Seit 1998 ist er mit seinem Büro als freischaffender Architekt in Berlin tätig. Er ist Vorstandsmitglied des Architekten- und Ingenieursverein Berlin (AIV).
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