"Braucht gute Architektur Bauvorschriften?"
Ja! 61%
Nein! 39%
{For English please scroll down}
Jaques Herzog hat einmal in einem Interview gesagt, “dass die meisten Architekten gar nicht fähig sind, mit einer Tabula-rasa-Situation etwas anzufangen. Die Einschränkungen und Vorgaben sind für die meisten Architekten das, woran sie sich mangels Fähigkeiten festhalten und woran sie ihr Ding festmachen können“.
Andererseits sind Regeln sind natürlich auch dazu da, gebrochen zu werden. Paul Goldberger meinte dazu in der New York Times sogar einst: „Maybe the best test of a good architect is his or her ability to break the rules and get away with it.“ Es gibt unzählige architektonische Beispiele, die deutlich machen, dass herausragende bauliche Lösungen oft nur dank der hartnäckigen Auseinandersetzung mit Vorschriften und Regeln möglich wurde. Zeitschriften widmen dem Thema ganze Ausgaben, wie z.B. die Bauwelt.
Reibungsfläche sind dabei einerseits Normen und andererseits baurechtliche Vorschriften oder Regeln. Erstere sind insbesondere im Wohnungsbau der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und später mit dem Protagonisten Ernst Neuffert) eine Errungenschaft zur Qualitätssicherung des Lebensstandards der breiten Bevölkerung. Sie fliessen ein in baurechtliche Vorschriften, bzw. Bauordnungs- und Bauplanungsrecht, das als politisches Steuerungsinstrument dient, und regelt, ob, was, wie und wieviel gebaut werden darf.
Aber gerade im Wohnungsbau müssen Normen und Regeln immer wieder an die aktuelle gesellschaftliche Situation angepasst werden. Wenn dies nicht geschieht, bleibt Architekten, die sie in kritischer Ausübung ihres Berufes hinterfragen, nichts anderes übrig als sie umzudeuten oder regelrecht auszutricksen. Ohne das Auffinden des gesetzlichen Schlupflochs oder ohne den legalen Regelverstoß durch die Architekten würde heute weder der Tour Bois le Prêtre von Druot, Lacaton & Vassal in Paris noch stehen, noch wäre je die Sargfabrik in Wien (link zum Projekt) entstanden. Standards, die einst zur Qualitätssischerung aufgestellt wurden, können heute zum Beispiel die Erstellung kleinerer und damit günstigerer Wohnungen verhindern. Auch Flächennutzungspläne oder Gestaltungssatzungen fordern Architekten heraus, ihre eigenen Antworten darauf zu finden. Doch wird der Akt der konstruktiven Überschreitung oft genug mit Ausschluss oder Verstümmelung bestraft – man denke an das vermeidbare Schicksal von Nicholas Grimshaws „Gürteltier“, das an der Straßenseite per behördlicher Anordnung auf 22m-Traufhöhe und Blockrandbebauung getrimmt wurde.
Aber darüber zu jammern hilft nicht. Architekten müssen eine aktivere Rolle im Prozess der Normierung und Regelung des Bauens einnehmen. Normen und Bauvorschriften sind bekanntlich nicht gottgegeben, sondern werden von Menschen mit bestimmten Interessen gemacht. Waren das anfänglich eher die politischen Vertreter der Bevölkerung, so haben sich hier in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Lobbyvertreter der Bauindustrie ins Spiel gebracht. Immer öfter schreiben sie ihre geschäftlichen Anliegen ganz unverhohlen in die Gesetzesentwürfe, die von den Gesetzgebern nicht selten nur noch durchgewunken werden – man denke an die EnEV, die den Bedürfnissen der Dämmstoffindustrie verbindlichst entgegenkommt. Auf diese Weise ist ein Wust an Vorschriften entstanden, der den einst archaischen Akt des Bauens heute so verkompliziert, dass Architekten immer mehr Zeit damit verbringen, die große bahnbrechende Idee, mit der man den Wettbewerb gewann, auch nur halbwegs unversehrt durch das scharfzackige Heckenwerk unzähliger Paragraphen aus kommunalen, föderalen, Bundes- und europäischen Richtlinien zu bugsieren. Der Architekt wandelt sich langsam vom Entwerfer zum wandelnden Behördenflüsterer. Immer lauter wird der Ruf, die Überregulierung des Bauens zu stoppen. Braucht gute Architektur also Bauvorschriften?
Aktuelle Anmerkung der Redaktion: Angestoßen durch den Britischen Pavillon der letzten Architektur Biennale in Venedig wird das Thema seit einiger Zeit auch in Großbritannien diskutiert (siehe: The Guardian) Und am 5. 3. fand am Royal Institute of British Architects in London ein von Liam Ross organisiertes Symposium zum Thema statt.
Does good architecture need regulations?
Jacques Herzog once said in an interview that: “Most architects are not even capable of dealing with a tabula rasa situation. Restrictions and regulations are what most architects hold on to, for lack of capabilities, in order to anchor their designs somewhere.“
But rules are meant to be broken they say. Former New Yorker architecture critic Paul Goldberger once went as far as saying: “Maybe the best test for a good architect is his or her ability to break the rules and get away with it.“ There are many examples of outstanding architectural designs that only came into being by negotiating, bypassing or even breaking existing regulations. Magazines, like the German Bauwelt, dedicate entire issues to this topic.
Friction is not only caused by general norms but also by regulations or rules. Norms, especially those of housing during the first half of the 20th century, were once used as tools for guaranteeing a good quality of life for the majority of the population. They have been moulded into building code and planning law that today serve as political instruments to regulate what, how, and how much can be built.
But norms and rules have to be adapted continuously to changing social conditions, especially in housing. If this does not happen, then architecture in pursuit of a critical practice will have no other choice but to artfully misinterpret them to reach a perfectly desirable design solution. Without the sophisticated search for legal loopholes, a building like Tour Bois le Prêtre in Paris, recently ingeniously transformed by Druot, Lacaton & Vassal, would no longer exist. An equally inventive project, like BKK-3’s Sargfabrik in Vienna, would never have been built in the first place. The same social housing standards first established to guarantee adequate space for dwelling now prevent the production of smaller and more affordable units in cases where that would seem useful (for instance in high-priced real estate markets). On the level of urban design, architects also face the challenge of passing their proposals through a legal corridor of zoning plans and design charters. If architects decide to go against these rules, they are often punished by either having their schemes disqualified from their respective competitions or by being forced to run their designs through a bureaucratic mill that finally spits them out as something entirely different – just remember the pathetic fate of Nicholas Grimshaw’s Chamber of Trade and Industry in Berlin, which on the side facing the street was crudely trimmed to match the standard 22m eaves line of Berlin’s traditional perimeter block.
But there is no point in lamenting over codes and regulations. Architects need to engage more actively in the process of defining the rules. For they are obviously not god-given, but made by people with particular interests. If in the beginning this was the task of our law makers, acting as representatives of society, recently we see lobbyists of the building industry to take an ever more poweful role. It’s not rare that they actually write new regulations which are then only waved through by politicians before becoming actual law. German regulations for saving energy (EnEv), for example, obligingly acts in the interests of the national building insulation industry. In this way, nearly every industrial lobby has managed to slide their particular agenda in some code or other over the past few decades. The result is a tangled mess of regulations that complicates the once archaic act of building, now beyond recognition. Increasingly, architects spend most of their time pushing their project’s one great idea through a vicious labyrinth of paragraphs defined by communes, the state, even the EU. There are increasing calls to stop the endless the proliferation of restrictions. And therefore we ask: Does good architecture need regulations?
Ja ...
Nein ...
Nein ...
Nein ...
Ja ...
Ja ...

Ja ...
Jein ...
Ja ...

Nein ...
Nein ...

Ja ...
Ja ...
Jein ...
Ja ...
Ja ...
Trotz lauschiger Reihenhäuschen und grossstädtischer Getreidesilos - wenn die Architekten der Generation unserer Väter und Grossväter den Namen Hans Bernoulli hörten, mussten sie die Zähne fletschen. Die ETH Zürich hatte dem Architekten 1938 Lehrauftrag und Professorentitel entzogen, weil Bernoulli Architektur und Städtebau nicht von politischen Fragen trennen wollte. Im Kampf gegen die Bodenspekulation propagierte er eine umfassende Bodenreform "Grund und Boden der Stadt, Hausbesitz den Privaten" - und scheiterte. Politisch waren seine radikalen Ziele damals und sind sie bis heute nicht durchsetzbar, zumindest in unseren gesellschaftlichen Breiten.
Die Architektur unserer Städte ist im Guten wie im Schlechten geprägt von einem über Generationen entwickelten komplexen Konstrukt verschiedenster Vorschriften, Auflagen, Baugesetze und eingeschliffener Praxis. Mit diesen Gesetzen schlagen wir Architekten uns herum. Sie gelten für alle.
Für fast alle. Manchmal kann einer für einen Bauherren planen, sagen wir für die Firma Roche, die der Stadt rund 2000 Arbeitsplätze anbietet, um sich im Gegenzug Ausnahmen von einzelnen Vorschriften zu sichern. Und so kann der fähige Architekt dann gewissermassen in einer Tabula-rasa-Situation seine Heimat Kleinbasel mit einem 180 Meter hohen superdildoartigen Hochhaus bestücken. Die Frage, ob es sich hier, im einzelnen, um gute Architektur handelt, und ob diese Bauvorschriften benötige, ist völlig bedeutungslos. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die gute Stadt Bauvorschriften braucht. Dem Bauherrn, der gute Architektur wünscht, ist es ja nicht genommen, die besten und fähigsten Architekten zu wählen. Aber was kann die Stadt tun, die wünscht, eine gute Stadt zu sein?
Hans Bernoulli hat bereits 1946 in seinem Büchlein Die Stadt und ihr Boden kritisiert: "Grund und Boden entgleiten dem Verfügungsrecht der Stadt". Daran hat sich bisher scheinbar nichts geändert. Wirklich nicht? In einer Demokratie kann eine Mehrheit knallkopfartig handelnder Stimmbürger den Bau von Minaretten relativ kurzfristig grundsätzlich verhindern. Leider. Aber auch dieses Gesetz kann wieder abgeschafft werden. Stimmbürger initiieren inzwischen erfolgreich nationale Gesetze,
mit denen unanständig vergebene Managergehälter verhindert werden. Das ist Gestaltung. Warum denken wir noch nicht daran, in unseren Architekturdiskursen, wie wir intelligente Gesetze zur spezifischen Veränderung unserer Städte entwerfen? Warum arbeiten wir nicht daran, uns einzumischen? Wenn wir die Stadt verändern wollen, dann interessieren uns die Bauvorschriften und ihre dauernde Modifikation als Schöpfung, als ein Gestaltungswerkzeug, mit dem wir selber unsere Städte transformieren, immerfort. Das klingt utopisch?
Die Stadt Lüttich zeigt deutlich mögliche Auswirkungen der Modifikation von Bauvorschriften. (Foto: Urs Füssler)
Urs Füssler arbeitet als freier Architekt in Berlin. Er hat an der ETH Zürich Architektur studiert, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Kassel u. a. das Fachgebiet Entwerfen im Städtebaulichen Kontext geleitet und war lehrbeauftragt an der UdK Berlin, AdBK Nürnberg, Uni Wuppertal und RWTH Aachen.
4
0
0