"Ist es pietätlos, an einem geschichtlich belasteten Ort zu bauen?"

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„Keine Luxuswohnungen auf dem ehemaligen Todesstreifen!“ – „Die Mauer darf nicht zum Gartenzäunchen von Hochhäusern werden!“ Mit Forderungen wie diesen stellten sich Tausende Protestierer gegen eine Teildemontage der EastSide Gallery am Spreeufer in Berlin-Friedrichshain. Nicht ganz klar war dabei, ob ein historisches Denkmalobjekt vor Vandalisierung beschützt oder ein als unangemessen empfundenes Bauprojekt verhindert werden sollte. Immerhin war die Protestszene hier noch vor Baubeginn erschienen. Entlang der berühmten Bernauer Straße raffte sich der Berliner Senat zu einem durchgreifenden Gedenkstättenkonzept erst auf, als im einstigen Grenzstreifen erste Neubauten schon standen. Eine einfache Zaunhecke trennt nun an der Ecke zur Strelitzer Straße eine Gruppe von familienfreundlichen Reihenhäusern von den Touristenscharen, die hier täglich tausendfach die brutale Teilungsgeschichte Berlins „hautnah erleben“ wollen.

Auch in Köln wehrt sich stadthistorische Empfindsamkeit. Anlass für Trauer und Zorn ist immer noch das eingestürzte Stadtarchiv. Als die Stadt an eben jener heiklen Stelle mit einer Schulerweiterung gleich das gesamte Viertel „neu entwickeln“ wollte, regte sich Widerstand. Dem Siegerentwurf des Wettbewerbs wird Vertuschung vorgeworfen: „Die Chance, hier einen ganz besonderen Ort zu schaffen, der Geschichte und Erinnerung mit zukünftigem öffentlichen Leben und Austausch vital verbindet, wird durch die banale Blockrandbebauung verspielt“, erklärt die Initiative ArchivKomplex kategorisch. „Auf diesem Ort“, so sieht es die Bauwelt, „lastet eine emotionale Hypothek, die alles, was hier passiert, unsensibel und banal erscheinen lässt.“

So vehement wird Rücksicht auf historische Vorbelastungen nicht immer gefordert. Dass in der KdF-FerienruineProra seit zwei Jahren erfolgreich eine große Jugendherberge betrieben wird, gilt als erlösender Befreiungsschlag für dieses Relikt der NS-Gigantomanie auf Rügen. Hermann Blankensteins „Arresthäuser“, als Haftanstalt Rummelsburg bis 1990 in Betrieb, werden seit 2008 als Berlin-Campus mit 150 „hochwertigen Wohnungen“ vermarktet: „Die meisten der roten Backsteinhäuser sind renoviert, zwischen ihnen stehen schicke neue Wohnhäuser. Nur der Wachturm ragt noch bedrohlich über die Dächer.“ Ohne Wachturm, aber kaum weniger umstritten wohnt es sich heute in jenem ordentlich sanierten Ensemble, das bis 1989 den „Geschlossenen Jugendwerkhof“ Torgau bildete. An das berüchtigte Strafkinderheim der DDR erinnern eine Gedenkstätte im Eingangsbereich sowie mehrere Informationsstelen auf dem halböffentlichen Hof.

Auch weniger politisch brisante Historiengründe können eine Wiedernutzung bestimmter Bauten und Orte fraglich werden lassen: Bei der profanen Neubespielung gemeindeloser Kirchen etwa hat man zu differenzieren gelernt: Als Bibliothek oder Kindergarten – immer gern! Als Kneipe – lieber nicht! Einem Baumaschinenhändler wurde unlängst verwehrt, am ehemaligen Berliner Grenzkontrollpunkt Dreilinden seine Bagger lagern zu dürfen. Schon wieder so ein „bedeutsamer Erinnerungsort der deutsch-deutschen Teilung“, wie die Berliner Zeitung feststellte, „und da verstehen die Denkmalschützer wenig Spaß…“.

Aber um Spaß geht es ja auch gar nicht. Wenn gegen Bauabsichten gestritten wird, geht es meistens um Respekt. Ist es also ratsam, in Anerkennung bestimmter historischer Vorkommnisse von einem Bauplatz mal die Finger zu lassen?

 

Diese Debatte führt als Gastredakteur der freie Kritiker und Publizist Wolfgang Kil.

 

Wolfgang Kil, geb. 1948, nach dem Studium in Weimar Projektant im Wohnungsbaukombinat Berlin, 1978-82 Chefredakteur der Zeitschrift „Farbe und Raum“, danach freier Autor und Kurator und 1992-94 Redakteur bei der „Bauwelt“. Seitdem ist er wieder freiberuflich als Publizist mit Arbeitsschwerpunkten DDR-Baugeschichte, demografischer Wandel, Stadtumbau und Bauen in Osteuropa tätig. Zahlreiche eigene Bücher, darunter „Luxus der Leere“ (2004) und „Das Wunder von Leinefelde“ (2007). 1997 erhielt er den Kritikerpreis des BDA.

 

Lucas vM / 14.6.2013 / 17:10

Jein ...

Ja und Nein. Nein unterliegt Bedingungen.Wohl jeder Ort stünde irgendwann vor dem Problem keine Bauflächen, sondern nur noch Mahnmale zu haben (Kontaminierung über Zeit). Andererseits ist es pietätlos gegenüber denen, die sich mit dem Ort bzw. dessen Ereignissen identifizieren. Dann gibt es Gebiete, bei denen sollte sich diese Frage gar nicht stellen, da dort so einschneidente und die Geschichte prägende Ereignisse stattfanden, dass ein anderer Zweck, als ein Mahnmal, einer Zensur oder Verleumdung gleichkommt (Niemand würde wohl ein KZ als Bauland vorschlagen oder nutzen wollen).Es gibt also mindestens 3 Perspektiven, von denen die letzte von vornherein als Baufläche absolut nicht in Frage kommen darf.Um den ersten beiden Seiten gerecht zu werden, sollten diese Gebiete zeitlich begrenzt, mindestens über den Zeitraum der betreffenden Generation(en) nicht bebaut werden dürfen. Über die Entscheidung, wie mit einem solchen Grundstück verfahren werden soll, sollten die betreffenden Generationen per Wahl entscheiden; nach Ablauf sollte es einen Volksentscheid geben, der ein solches Gebiet entweder freigibt oder für eine weitere Generation sperrt.Ein fiktives Beispiel 1:Im Jahr 1940 fanden in Gebiet A prägende Ereignisse statt. Betroffen sind fiktiv 3 Generationen. Die jüngste Generation wäre jetzt, 2013, 73 Jahre alt und hätte in 3. Wahl entschieden, ob und wie das Gebiet genutzt werden darf. Die nicht mehr betreffende 4. Generation, also unsere, wählt dann gemeinsam über die weitere Nutzung für die nächsten x Jahre.Bei dem Beispiel, wäre das Gebiet also erst nach 70-90 Jahren nach dem Ereignis, wieder zu bebauen. Oder auch nicht. Beispiel 2:Ich bin 22 und kann mich weder mit der DDR-Politik noch dem Regime oder den Ereignissen identifizieren. Meine Großeltern und meine Eltern jedoch. Deshalb sollten diese beiden Generationen primär entscheiden dürfen, was mit so einem Grundstück passiert. Meine Kinder und Enkel würden dann nach Relevanz ihrer Zeit entscheiden.Vorteil:Man führt Generationenübergreifend mit jeder neuen Generation einen Dialog, ohne Teile der Geschichte versehentlich zu zensieren bzw. zu verleumden; betreffende Gebiete werden erst dann verwendet, wenn von der akteullen Generation in Mehrheit erlaubt wird, dass sie anderweitig verwendet werden dürfen; an einer solchen Wahl erkennt man auch die die Relevanz in der jeweiligen Zeit; es gibt nicht das Problem, mit dem plötzlichen Ausradieren ganzer Historien, wie z. B. in der DDR-Baupolitik; es entstünde die Möglichkeit, ein Mahnmal/eine Gedenkstätte nicht aus Pflichtbewusstsein oder Sühne zu halten, sondern weil man tatsächlich der Ereignisse gedenkt.Nachteil:Eine Stadt/Gemeinde, kann nicht einfach über die Nutzung verfügen; nachfolgende Generationen müssten die Enscheidung der betreffenden Generation akzeptieren und dürften erst dann entscheiden, wenn es diese nicht mehr gibt. * betreffende Generation: mindestens Zeitzeugen.
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Fabian Hoyer / 17.4.2013 / 17:24

Architekt

Nein ...

Nein, es ist die Aufgabe einer guten Architektur die Geschichte zu tranformieren und den Ort dadurch zu stärken. Das Bewußtsein für die Geschichte des Ortes muss dabei erhalten bleiben!
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Claudio Cassetti / 6.4.2013 / 13:16

Stadtführer, Stadtvermittler, Berlin

Nein ...

Nicht pietätlos aber weniger respektvoll für die Vergangenheit wäre das nicht bauen, das nicht leben an diesen Orten, sie zu etwas zu verwalndeln, wo man nur bei politischen Bildungsreisen, offiziellen Gedenktagen oder wie im Museum geht.Die Vergangenheit (gerade die dramatische Vergangenheit) muss zum Teil des (Alltags)Lebens werden, damit sie nicht vergessen wird. Es ist auch empatisch und respektvoll gegenüber den Opfern, ähnlich mit den Photos der verstorberbenen Großeeltern im Wohnzimmer. Damit sie unter uns bleiben.Anderseits ist das Leben alles, sowohl leiden als auch lachen, sowohl mit Champagne als auch mit billigem Aldifussel zu trinken (oder leider zu saufen).Also bitte bitte bauen, nicht leer lassen: das ist denkmal- und gedenkwürdigesverhalten.Aber nicht nur Luxuswohnungen bauen.Claudio C. 
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André Kempe / 30.3.2013 / 7:54

Architekt, Rotterdam

Nein ...

... aber im Grunde genommen ist die Frage auch falsch gestellt.Zunächst ist jeder Ort mehr oder weniger „geschichtsbelastet“, denn er hat ja eine Geschichte. Der moralisierende Unterton der Frage führt geradewegs in eine Sackgasse, denn mit ihr steht man sich schnell selbst im Wege. Viel eher sollte gefragt werden, wie man mit Geschichte im Allgemeinen, und in dem Sinne auch mit einem stark geschichtsbelasteten Ort umgehen kann.Abhängig von der Art des Ortes, der Stärke des Objektes oder Raumes, seiner Intensität und Ausstrahlung sollte man abwägen, ob man sich für Konservierung, Transformation oder vollständiger Umwandlung der Situation entscheidet. Die Frage sollte also als architektonisches Thema behandelt und bewertet werden, ähnlich den Vorschlägen von Oswald Matthias Ungers zum Umgang mit der Stadt, wobei alle Einflussfaktoren in einer umfassenden Diskussion natürlich Eingang finden müssten. Denn nicht jeder Ort ist es wert, zur Gedenkstätte „musealisiert“ zu werden. Ein richtiges Stück der Berliner Mauer wäre zum Beispiel interessant – allerdings mit dem gesamten Todesstreifen, in voller Breite und mit der ganzen Ausstattung. Das ergäbe ein starkes Bild. Ob der Mauerrest an der East Side Gallery diese Intensität hat, erscheint dann wohl eher fraglich.Fehlt ein architektonisches Konzept für die Einschätzung, ob ein Ort Geschichte anschaulich macht, wird entweder rein pragmatisch alles dem „Markt“ geopfert, oder es wird wahllos musealisiert, was manchen Städten einen regelrecht  ausufernden Denkmalbestand bescherte was letztendlich lediglich als ein Zeichen geistiger Stagnation erscheint. Anders als bei der Berliner Mauer, stellt sich für eher „normale Gebäude“ die Frage, was Architektur in diesem Zusammenhang überhaupt leisten kann. Kann sie denn grundsätzlich an etwas erinnern, gar an etwas gemahnen? Ist Architektur, zumal in einem Zeitalter, in dem sie von jeder anderen Funktion als der schlichter Behausung befreit (besser: beraubt) wurde, überhaupt in der Lage, etwas anderes als sich selbst auszudrücken? Ist sie heute noch (war sie es denn jemals wirklich?) in der Lage, etwas zu kommunizieren, das über sie selbst hinaus reicht?Auf lange Sicht lebt Architektur von sehr einfachen, sehr allgemeinen Eigenschaften. Ist ein Gebäude oder eine städtische Situation großzügig konzipiert, gibt es einen logischen Aufbau? Gibt es ausreichende Flexibilität, um zukünftige Veränderungen aufzunehmen? Ist ein Gebäude einladend oder deprimierend, verlocken seine Räume zum Verweilen? Steht es logisch in der Stadt oder in der Landschaft? Möglicherweise spiegelt sich in derartigen Eigenschaften auch der Geist der Erbauer, möglicherweise kann man kleinliche, unaufrichtige, gar verbrecherische Intentionen in Strukturen lesen? Aber der Architektur eine erkennbare Ideologie direkt anhängen zu wollen, erscheint fraglich.In dem Sinne sind auch Symbolgehalte, die für eine bestimmte Generation in der Architektur eine Rolle spielen, möglicherweise zu zeitgebunden, um für folgende Generationen noch lesbar zu sein. Für eine anschauliches Erinnern eignen sich womöglich andere Medien besser, etwa der Film oder Bildbände. Aus dem Grunde kann man also mit Gebautem auch durchaus pragmatisch verfahren. André Kempe (*1968 in Freiberg), studierte 1990-1997 Architektur an der TU Dresden. Nach ersten Erfahrungen in verschiedenen niederländischen Architekturbüros gründete er im Jahr 2000 zusammen mit Oliver Thill das Architekturbüro Atelier Kempe Thill mit Sitz in Rotterdam. Das Büro arbeitet zur Zeit an Aufträgen in verschiedenen Ländern im mitteleuropäischen Raum, wurde 2011 „Architect of the Year NL“ ausgezeichnet und hat eben bei HatjeCantz eine umfassende Monographie veröffentlicht
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Reinhard Matz / 27.3.2013 / 9:57

Fotograf, Autor, Künstler. Mitglied der Initiative ArchivKomplex

Jein ...

 Zeiten der Tat und Zeiten für Rat. Heute lebt zumindest der Kulturbereich eine museal-reflexive Zeit, die flotten Erneuerungen misstraut. Wir fordern heute also eher Ja. Andere Zeiten, andere Entscheidungen. Dass die Konnotationen von ›pietätlos‹ und ›geschichtlich belastet‹ allerdings eher ein missverstänliches Nein nahelegen, hat Stefanie Endlich hinreichend ausgeführt, ebenso, dass damit die mögliche Debatte auf einen problematischen Weg geführt wird und die Frage nur in jeweiligen Einzelentscheidungen zu beantworten ist.In Köln jedenfalls wollen maßgebliche Kräfte den peinlichen, das Image der Stadt beschädigenden Archiveinsturz baldmöglichst unter den Teppich kehren. Deshalb ein städteplanerischer Architektenwettbewerb, bevor die Kunst überhaupt gefragt wurde. Deshalb öde Blockrandschließung, wo Erinnerungskultur zu greifen hätte. Verdrängung, statt die Blamage durch ein gelungenes Zeichen und durch ein neues städtisches Selbstverständnis zwischen der Bürgerschaft und ihrer Verwaltung positiv zu wenden. Mehr Infos: www.archivkomplex.deEs gibt bessere Lösungen als Verfahren nach 08/15, sie fordern allerdings mehr Selbstbefragung und -akzeptanz, mehr Nachdenken und Kreativität, mehr Arbeit und Erneuerungswillen.Reinhard Matz für ArchivKomplex
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Wolfgang Kil / 21.3.2013 / 16:10

Gastredakteur Bkult

Ja ...

Zwei Fragen tauchen in verschiedenen Debattenbeiträgen auf Facebook immer wieder auf: Was soll man eigentlich unter einer „geschichtlichen Last“ verstehen, und währt eine solche zeitlich unbegrenzt?Die erste Frage zielt direkt auf die „gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse“. Hinter der abstrakten Formulierung stecken in aller Regel langwierige Konflikte zwischen Interessengruppen, oft massiv emotionsgeladen, nicht selten einseitig oder gar durch irrtümliche Ansichten motiviert. Da es keine objektive Interpretation von Geschichte, nur die – zumeist differierenden, wenn nicht gar konträren – Erzählungen unterschiedlich Betroffener gibt, müssen sich für öffentlich relevante Entscheidungen Mehrheitsmeinungen finden. Solche Abwägungen fallen erfahrungsgemäß umso schwerer, je lebendiger die realhistorische Erfahrung unter Beteiligten noch ist. Das macht u.a. die Konsenssuche zu Fragen der deutschen Teilung so schwierig.Zur Frage, was an Geschichte als „Last“ zu empfinden sei, will ich auf den Beitrag von Sergej Tschoban verweisen, der hierfür die Individuen mit ihren Empfindungen ins Spiel bringt:„Grenzen des Anstands“, „Betroffenheit“ oder „Kränkung“. Dieser Ruf nach einem nicht-dominanten, entgegenkommenden Verhalten reagiert auf die Tatsache, dass auch bei einer geltenden Mehrheitsmeinung immer auch noch andere Positionen anwesend bleiben und Berücksichtigung finden sollten.Und zu den zeitlichen Horizonten würde ich mich der Entscheidung von realities:united anschließen, die etwa bei Denkmalwettbewerben ihre „Botschaft“ nicht an noch lebende Zeitzeugen, sondern explizit an die Nachgeborenen richten. Sie rechnen mit einer Geltungszeit historischer Bewertungen von etwa einer Generation. Danach müssten infrage stehende Konsense überprüft, nötigenfalls neue gefunden werden. 
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Ursula Baus / 19.3.2013 / 13:42

Architekturjournalistin, Stuttgart

Jein ...

Diese Frage stellt sich, seit es den Denkmalschutz gibt. Und genau so lang weiß man: Kein Fall gleicht dem anderen, immer wieder gilt es zwischen (architektur-)geschichtlichen Werten und baukulturell vertretbarer Erneuerung abzuwägen. Das Wort „pietätlos“ in dieser bkult-Frage weist allerdings auf Orte, die Erinnerungen an historisch oder religiös ziemlich Schwerwiegendes wachhalten sollten. Klar: Finger weg von solchen Orten. In andern Fällen: zumindest Quarantänezeit einhalten, bis vernünftig debattiert werden kann.Grundsätzlich kommt es jedoch auf die Perspektive an, aus der heraus ein mehr oder weniger gut oder gar nicht erhaltener Ort für bewahrenswert oder erneuerbar gehalten wird. Die zuverlässigste Perspektive ist mit dem Fachwissen gut ausgebildeter und umsichtiger Denkmalschützer gegeben, die dem Wankelmut erboster oder gerührter Laien genauso wie perfiden Interessen der Wirtschaft oder Politik vorzuziehen ist.Aber leider besitzt die Denkmalpflege kaum noch Entscheidungsmacht. Ob ein Ort geschützt wird oder nicht, entscheiden immer öfter fachfremde Ämter – manchmal sogar Finanzbehörden –, die dem Begehren von Investoren viel zu schnell nachgeben. Was jetzt als Bürgerprotest in Köln oder Berlin in Sachen Erinnerungsorte zu beobachten ist, entzündet sich beispielsweise auch im gerechtfertigten Zorn gegenüber finanzkräftigen Investoren und willfährigen Politikern.Also: Alle Entscheidungsmacht zurück an die Denkmalpflege. Die wird sich neuen Herausforderungen (öffentlicher Verfahrenskultur) stellen müssen und können. Aber ohnehin:  Darüber, dass wir viel mehr erhalten als abreissen sollten, muss nicht mit „Pietät“, sondern Vernunft entschieden werden. Dr. - Ing. Ursula Baus, ist keine Denkmalpflegerin. Sie studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Architektur in Saarbrücken, Stuttgart und Paris. Stipendien und Promotion. Nach langer Redaktionsarbeit gründete sie 2004 mit Christian Holl und Klaus Siegele die Partnerschaftsgesellschaft frei04 publizistik (www.frei04-publizistik.de), lehrte Architekturtheorie, verfasste Kritiken, Essays und Bücher und ist jetzt mit ihren frei04 publizistik-Kollegen u. a. für die redaktionellen Inhalte des Portals www.german-architects.com zuständig. Im wissenschaftlichen Kuratorium der IBA Basel 2020. 
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Stefanie Endlich / 19.3.2013 / 12:49

freiberufliche Kunstpublizistin, Berlin

Nein ...

… obwohl diese Frage erst einmal ein klassischer Kandidat für eine „Jein“-Antwort wäre. Für „Jein“ würde sprechen, dass es darauf ankommt, jeden Fall für sich genau zu analysieren und abzuwägen. Zu jeder einzelnen Situation sollte man Stellung nehmen und die Rahmenbedingungen mit bedenken. Denn wie könnte man Äpfel und Birnen vergleichen – wie also die in der Frage erwähnten historischen Orte von der East Side Gallery über die Trümmer des Kölner Stadtarchivs bis zu Prora und dem Jugendwerkhof Torgau über einen Kamm scheren? Zumal es sich doch bei den jeweiligen Bauvorhaben teils um Neubauprojekte und teils um Umnutzungen handelt, die sich doch in ihrer Problematik grundsätzlich unterscheiden.Aber nun entscheide ich mich doch für ein „NEIN“ als Antwort. Warum? Weil die Worte  - natürlich in provokativer Absicht gewählten - „pietätlos“ und „geschichtsbelastet“ eine schwere Hypothek von Schuld und Trauer, von Totenklage und Lebenshoffnung heranwälzen, die eine atmosphärische Bleidecke über alle denkbaren Projekte an historischen Orten legt. Tatsächlich würde Pietät, also Respekt vor den Toten, gerade jenes genaue Hinschauen erfordern, aus dem sich Kriterien entwickeln lassen. Wie verändert ein Neubau das geschichtliche Areal – überformt er es oder trägt er dazu bei, es besser sichtbar zu machen als zuvor? Was macht eine Umnutzung aus einem alten Gebäude – macht sie es zur hippen Kulisse oder bewahrt sie es zuerst vor dem Abriss und dann auch vor dem Verlust seiner besonderen Charakteristika? Auch der Begriff „geschichtsbelastet“ mag gar nicht in mein Verständnis von Geschichte passen. Er impliziert eine Aura, einen mythischen Nebel, wo es doch darum ginge, Lust auf historisches Lernen zu wecken, gerade auch für schwierige Etappen der jüngeren Vergangenheit, ohne die auch unsere Gegenwart nicht zu verstehen ist. Zum historischen Lernen können Neubauten und Umnutzungen genauso gut beitragen wie ein manchmal notwendiger strenger Bestandsschutz oder „archäologische Fenster“ – es kommt immer darauf an, wie man es angeht.So ist die East Side Gallery, wenngleich auf unerwartete Weise zu einem seltsamen neuen Mythos geworden, nicht, wie die Mauergedenkstätte Bernauer Straße, ein Dokument der Teilung und ein Memorial für die Maueropfer, sondern ein einzigartiges Dokument der Freude über die Überwindung der Mauer. Warum sollte man nicht versuchen, die leichtfertige Freigabe von Senat und Bezirk an Investoren-Interessen rückgängig zu machen? Die Jugendherberge in Prora ist ein Glücksfall einer gelungenen Nachnutzung; fragwürdig ist dort vielmehr die schrittweise Verdrängung des Dokumentationszentrums und die Preisgabe wesentlicher Blöcke an private Ferienwohnungsnutzung, mit deren Verhübschungs-Strategien ein „neuer Glanz“ einziehen soll. Die Gedenkstätte „Geschlossener Jugendwerkhof“ in Torgau ist ein bemerkenswerter Ansatz zur Geschichtsvermittlung. Hier wie im einstigen „Arbeitshaus“ und DDR-Gefängnis Berlin-Rummelsburg, wo der Bezirk Lichtenberg und Initiativen sich um eine Dokumentation im ehemaligen Verwaltungsgebäude bemühen, kann man froh sein, wenn es angesichts der Umwidmung des Areals für private Nutzungen gelingt, eine historische Kommentierung in einem konzentrierten Bereich auf dem historischen Areal unterzubringen.Dass manche Maximalforderungen von Opferverbänden, groß dimensionierte Gebäude in Gedenkstätten umzuwidmen, durchaus kontraproduktiv sein können, hat die Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Schloss Lichtenburg in Sachsen-Anhalt auf schmerzliche Weise gezeigt. Die anfangs umstrittene Umgestaltung der „Station Z“, der einstigen Todeszone in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, durch eine markante bauliche Hülle über den Krematoriumsresten inmitten des denkmalgeschützten Areals hat als eindrucksvolle Neuinterpretation des zentralen Gedenkortes große Anerkennung gefunden. Bei der Umnutzung von leer stehenden Kirchen, die die Gemeinden nicht mehr halten können, wird man weniger auf religiöse Gefühle als vielmehr auf ihre Bedeutung als Baudenkmale Rücksicht nehmen. Ein Beispiel ist die Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf, die wegen ihres die NS-Ideologie dokumentierenden einzigartigen Kunstprogramms zur Dokumentationsstätte umgebaut werden sollte, nicht aber zum Multifunktionshaus oder gar zum Kaufhaus oder Restaurant, wofür sie sich auch gar nicht eignet.Ob man neu bauen oder umnutzen kann und soll, hängt also von einer schwierigen Balance ab: auf der einen Seite eine kreative „Vision“, die sich mit Sensibilität gegenüber der Geschichte und mit genauen Kenntnissen der bisherigen Prägung des Ortes verbindet, auf der anderen Seite Pragmatismus und nüchterner Realitätssinn für Fragen der Gegenwart und Zukunft. Prof. Dr. Stefanie Endlich, freiberufliche Kunstpublizistin in Berlin. Honorarprofessur für Kunst im öffentlichen Raum an der Universität der Künste Berlin. Bücher und Ausstellungen über bildende Kunst, Architektur, Stadtentwicklung und zum Thema Erinnerung. Langjährige Zusammenarbeit mit Gedenkstätten in Projekten und Gremien.
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Thies Schröder / 19.3.2013 / 12:43

Autor und Moderator, Berlin

Nein ...

... es ist nicht pietätlos, an einem geschichtsbelasteten Ort zu bauen. Welcher Ort ist ohne Geschichte? „Belastet“, also gewichtig, kann diese sein, wenn ein Ort in seiner Geschichte den Toten gewidmet war. Diese Orte verlangen Pietät, also Respekt und Ehrfurcht den Toten gegenüber. Im jüdischen Glauben ist die Überbauung solcher Grabstätten prinzipiell ausgeschlossen. Protestanten sind da etwas flexibler, wie jüngere Diskussionen auch in Berlin (Heinrich-Roller-Straße) zeigen.Meist gibt es einen gesunden Menschenverstand, der die Frage der Pietät berücksichtigt. Natürlich ist es ratsam, einen Bauplatz auch aufgrund seiner „historischen Vorkommnisse“ zu betrachten. Es ist erstaunlich, wie viel Unbedarftheit in dieser Frage häufig bestand und besteht. Wenn die Barackenlager des KZ Flossenbürg schon kurz nach der Befreiung dieses Lagers wieder Siedlungsstandorte waren, ist das aus heutiger Sicht unverständlich. Aus damaliger Sicht war die Antwort logisch: es galt, viele Menschen in kurzer Zeit unterzubringen, die Bauten standen zur Verfügung. Die Frage nach der Pietät kann also nicht ohne Beachtung der jeweiligen Zeit des Urteils erfolgen.Es ist deswegen wenig hilfreich, absolute Tabus zu postulieren. Wenn beispielsweise sinai Landschaftsarchitekten und Mola Winkelmüller Architekten (die Entwurfsverfasser auch der Gedenkstätten Berliner Mauer) eine (auch bauliche) Antwort finden, wie ein Ort wie die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang, ein Täterort in der Eifel, ideologisch extrem übersteigert in seiner Geschichte, zukünftig zu einem internationalen Begegnungsort werden kann, zu einem Naturparkzentrum, zu einem Ort der Auseinandersetzung mit Geschichte, ist diese (auch bauliche) Antwort nicht verboten, sondern hilfreich. Wo allerdings die bauliche Antwort unreflektiert erfolgt, ohne Kenntnis, ist die Achtung vor der Geschichte eines Ortes nicht möglich. Abschließend folgt daraus: Ja, es ist möglich – wenngleich nicht beliebig möglich –, an geschichtsbelasteten Orten zu bauen. Thies Schröder, geb. 1965, Autor und Moderator, ist Inhaber der Agentur ts|pk thies schröder planung & kommunikation sowie des L&H Verlages und Mitinhaber der Perspektivmedien UG. Schröder leitet als Geschäftsführer die Ferropolis GmbH in Sachsen-Anhalt, einen Ort der Industriekultur, und betreibt dort Standortentwicklung per Event. Seit 2009 lebt und arbeitet Thies Schröder in der Bernauer Straße 8a, direkt am ehemaligen Mauerstreifen.
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Jan Große / 19.3.2013 / 12:25

Architekt, Berlin

Nein ...

Man kann an geschichtsbelasteten Orten bauen. Denn eine Stadt, in der thematisierte Erinnerungsorte zunehmen, ist eine grauenvolle Vorstellung. Welcher Ort ist geschichtsbelastet, welcher nicht? Wer fühlt sich von welcher Geschichte belastet? Auf welche Geschichte berufen wir uns? Wer trifft die Auswahl? Welche Ebene der Geschichtsbetrachtung legen wir zugrunde? Wie wichten wir z.B. Politische Geschichte gegen Städtebaugeschichte? (Welche Bedeutung hat das Hohenzollernschloss für die Geschichte der freien Bürgerstadt Berlin?)Vielleicht ist eine Auswahl von wenigen Orten nötig, auf die die Frage nach der Pietät zutrifft. Grundlage wäre ein von der Gesellschaft mehrheitlich anerkannter Stellenwert. Da sollte dann wenig oder nichts verändert werden, so noch etwas da ist. Ein paar Brachen. Die Stadt wird es aushalten.Vielleicht ist auch die Berliner Mauer nur als Brache möglich, als Riss im ansonsten gesundeten Stadtorganismus. Die Mauergalerie ist eine Kunstausstellung für Touristen, disneyartige Banalisierung trotz Erhalt des Gebauten. Das kann so bleiben, ist aber nicht der Ort, der deutsche Teilung dokumentiert. Deren geschichtliche Dimension, Gewalt und Banalität im alltäglichen Leben auf beiden Seiten, lässt sich durch die Ausstellung nicht transportieren.Für alle anderen geschichtsträchtigen Orte transportiert die lebendige Stadt die Geschichte. Am besten, wenn auf Inszenierung verzichtet werden kann. Der konkrete Ort sollte keine Sonderstellung in der Stadt erhalten, sondern mit seiner Geschichte weiterleben, neues Leben aufnehmen in Kenntnis der Vergangenheit, ohne Inszenierung, ohne Glättung, ohne Uminterpretation, ohne Richtigstellung, ohne Deutungshoheit... offen für die Wahrnehmung und individuelle Interpretation. Dazu braucht es vor allem Öffentlichkeit, um Geschichte im öffentlichen Bewusstsein zu erhalten. Öffentlichkeit ermöglicht Vielfalt der Interpretationen und Weltanschauungen. Wenn immer mehr Teile der Stadt privatisiert werden, erübrigt sich "Gedenken", da wir dann der Interpretation von Geschichte durch einzelne Privatinteressen ausgesetzt sind.Wenn man geschichtsbelastete Stadt also weiterbauen kann, weil man weiterleben will, stellt sich die konkrete Frage zunächst nach dem WAS-bauen und dann nach dem WIE-bauen. Die konkrete Entwicklung eines Bauwerks in Berlin – von der einstigen Reichsbank über das Zentralkomitee der SED zum Außenministerium der heutigen Bundesrepublik – zeigt eine akzeptable Möglichkeit.Die Angemessenheit muss am konkreten Fall entschieden werden.
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Torsten Krüger / 19.3.2013 / 12:17

Architekt, Berlin

Jein ...

... denn unsere Entscheidungsprozesse werden zwar durch rationale und logische Argumente vorbereitet, unterliegen jedoch auch emotionalen und empathischen Gefühlen. Die Frage, ob an einem geschichtsbelasteten Ort gebaut werden kann, aktiviert unsere emotionalen und empathischen Sinne besonders. Dies ermöglicht uns, differenzierte Strategien wie beispielsweise Transformation, Überformung und Neuschöpfung für den Umgang mit historisch belasteten Orten zu entwickeln. Je länger die konkreten Ereignisse jedoch zurück liegen, desto mehr verblassen die Fakten und die Erinnerung der Menschen an diese, befreien sich belastete Orte von ihrer Vergangenheit.   Die Erinnerung und Bewahrung geschichtlicher Ereignisse erfolgt durch Aufarbeitung der Fakten und die Vermittlung dieses Wissens. Wird dieses Wissen an authentischen Schauplätzen mit originalen Artefakten zusammengebracht, entstehen spannende und anschauliche Inszenierungen.  Dies ist nur möglich, wenn die Originalsubstanz und die Gedenkorte dauerhaft durch neue Nutzungen  oder durch staatliche Zuwendungen finanziert werden.Im Extremfall können Orte im gesellschaftlichen Bewusstsein durch ein Geschichtsereignis aber auch so negativ besetzt sein, dass sie keine Begehrlichkeiten in Bezug auf eine neue Nutzung wecken, die nicht unmittelbar der Wissensvermittlung dient. Das neue Projekt am Ground Zero in New York etwa finanziert einen Gedenkort für die Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001. Es entsprach nicht der Pietät und dem Selbstverständnis der Amerikaner und der Grundstückseigentümer diesen Standort insgesamt als Mahnmal und Gedenkort zu erhalten. Das Projekt ist im Gegenteil der Versuch, das Gedenken an die Opfer mit der  Zukunft dieses Ortes zu verbinden und darüber hinaus ein Symbol für die amerikanische Nation zu setzen, die auch im Wahlspruch des amerikanischen Präsidenten Obama „Yes we can“ deutlich wurde.Die Bundesrepublik Deutschland nutzt für ihre Berliner Ministerien und Dienststellen heute Gebäude aus so unterschiedlichen Zeitepochen wie Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Sozialismus und Gegenwart. Gleichzeitig wurde ein Teil des Erbes verworfen, trennte man sich aus unterschiedlichen Gründen beispielsweise vom Palast der Republik oder dem Außenministerium der DDR. Dem ganzen ging ein jahrelanger gesellschaftlicher Diskurs voran und dieser ermöglichte die Aneignung dieses gesamten Erbes deutscher Geschichte – ein Prozess, dem wir ebenso zahllose Gedenk- und Geschichtsorte verdanken. Torsten Krüger, geb. 1963, studierte von 1983-1988 Architektur in Weimar. Nach Tätigkeit an der Bauakademie 1990 Gründung der KSV Krüger Schuberth Vandreike GmbH mit den aktuellen Units Architektur, Design und Kommunikation. KSV haben zahlreiche Wettbewerbe und Auszeichnungen gewonnen sowie Projekte in den Bereichen Markenarchitektur, Corporate-, Innen-, Ausstellungs- und Urban Design realisiert, z.B. die 1. Preise im Wettbewerb zum Bundeskanzleramt in Berlin, dem Neubau des Museums für moderne Kunst in Bozen/Italien, dem Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde oder die internationalen Projekte für die BMW AG in Europa, Asien und Amerika. www.ksv-network.de
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Ulrike Steglich / 19.3.2013 / 12:13

Journalistin und freie Autorin, Berlin

Ja ...

… denn das ist keine Frage der Sentimentalität oder Geschichtshuberei, nicht mal eine Frage des Denkmalbewahrens. Die ist in Berlin sowieso grandios missglückt: Was in dieser Stadt an Geschichte schon alles entsorgt wurde, wäre ein Buch für sich. Die vielen Jahre, in denen ich ratlosen Touristen auf die Frage „Where ist the wall?“ nichts mehr antworten konnte, weil das Bauwerk so gründlich abgerissen worden war, waren ab 2005 endlich vorbei: Da beschloss der Senat (auf Anraten des Tourismusverbandes) schließlich doch, eine Mauergedenkstätte einzurichten. Aber wenn, dann gründlich, mit allem Drum und Dran! So sind die Deutschen. Immerhin: Wenn ich meinen Söhnen die für sie groteske Geschichte der Teilung erzählen will, kann ich das nun an der Bernauer Straße tun. Auch wenn die mittlerweile wirkt wie eine neue Schrankwand, ausstaffiert mit Reststücken.Ich könnte ihnen auch den Katalog zeigen, in dem zu sehen ist, wie ich 1990 selbst an der „East Side Gallery“ gemalt hatte. Wie davor schon in langen Fußgängertunneln oder an Großrohren irgendwo vor Schönefeld – es war ein Heidenspaß. Gehangen habe ich an diesen Dingen nicht, Vergänglichkeit gehörte dazu. Ich mochte auch nicht unser von Graffitis übersätes East-Side-Bild wieder restaurieren. Da war nie ein Anspruch auf Ewigkeit. Die Mauer auf der Ostseite bemalen zu können, war nur eine ganz und gar spontane Befreiung. Von mir aus sollen sie nun ihre Luxuswohnungen da bauen. Es wird ja nicht wirklich den Druck vom Berliner Luxuswohnungsmarkt nehmen, aber ist doch ein adäquater Ausdruck der derzeitigen Berliner Zustände.Was mich dagegen aufbringt, ist dieses Auftrumpfen der Bürokraten: Ja, vor zwölf Jahren wurde mal ein Bebauungsplan für das Spreeufer aufgestellt – mit einer sogenannten „Bürgerbeteiligung“, deren Verfahren niemand schöner als Douglas Adams in „Per Anhalter durch die Galaxis“ beschrieben hat: Da muss sich der Held zu den Amtsunterlagen mit einer Taschenlampe bis in den dunklen Keller durchkämpfen und riskiert dabei sein Genick. „Aber die Bekanntmachung haben Sie doch gefunden, oder?“, fragt der Beamte. „Jaja“, sagte Arthur, „Ganz zuunterst in einem verschlossenen Aktenschrank in einem unbenutzten Klo, an dessen Tür Vorsicht! Bissiger Leopard! stand.“In zehn Jahren kann so viel passieren: Kriege bewegen Kontinente, ein Tsunami stellt die gesamte Energiepolitik in Frage, Staaten gehen pleite, ein EU-Bankrott droht und setzt neue Bevölkerungswanderungen in Gang, in Großstädten droht wieder Wohnungsnot. Nur ein über zehn Jahre alter deutscher Bebauungsplan darf nicht aufs Neue hinterfragt werden?Bis zu jenem Tag, an dem die Bagger anrücken, hielten es weder Senat noch Bezirk für nötig, die Bürger über den aktuellen Stand des Vorhabens zu informieren. Was, bitte, ist das für ein Politik- und Demokratieverständnis?  Ulrike Steglich, geb. 1967 in Berlin, seit 1992 freie Autorin und Journalistin, war 1992-2007 u.a. Redakteurin der unabhängigen Berliner Stadtzeitung „scheinschlag“
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Sergei Tchoban / 19.3.2013 / 12:07

Architekt, Berlin

Nein ...

Die historische Bedeutung eines Ortes ist nicht eindeutig festzulegen, sie ist – wie jede historische Sicht – dem jeweils herrschenden Zeitgeist unterworfen. Grundsätzlich legt die Relevanz für das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft fest, ob Orte in ihrer historischen Beschaffenheit bewahrt werden sollten oder für eine bauliche Intervention verfügbar sind. Ob historische Orte bebaubar sind, hat aber auch viel mit dem individuellen Verständnis der Ereignisse zu tun, die den Ort zum geschichtlichen Schauplatz machen. Pietät oder Tabuisierung sind eine Frage der persönlichen Haltung, die einhergeht mit dem Problem, zugleich mit dem Bauherrn und der breiten Öffentlichkeit Einigung zu erzielen oder sich nur einem von beiden anzuschließen. Die Grenzen des Anstands, um die die Frage kreist, werden aber nicht dort überschritten, wo Vorschläge und Pläne für einen Bauauftrag auf Ablehnung, Betroffenheit oder Kränkung stoßen, sondern wo die Veränderung zur persönlichen Verletzung und zum Verlust führt. Das historische Gedächtnis kann durchaus an einem baulich veränderten Ort fortleben, ja: Es ist geradezu die Eigenart der Stadt, Orte mit wachsendem und sich wandelndem, durchaus auch kontroversem historischem Kontext aufzuladen. Sergei Tchoban, geb. 1962 in Sankt Petersburg, studierte Architektur an der Kunstakademie seiner Heimatstadt. Er trat 1992 nach seiner Übersiedlung aus Russland in das Hamburger Büro nps Architekten BDA ein und steht seit 1996 als geschäftsführender Partner der Berliner Niederlassung von nps tchoban voss vor. 2006 gründete er das Studio SPEECH Tchoban & Kuznetsov in Moskau. Die Ende 2009 ins Leben gerufene Berliner Tchoban Foundation – Museum für Architekturzeichnung mit ihrer umfangreichen Sammlung eigener und bedeutender historischer Grafiken hat zum Ziel, das Interesse an der klassischen Architekturdarstellung zu beleben und Talente zu fördern.
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Friederike Meyer / 19.3.2013 / 11:52

Architekturjournalistin, Berlin

Nein ...

Unsere Erinnerungskultur ist so vielfältig wie die Antwort auf die Frage, welche Form des Gedenkens die „richtige“ ist. Ich halte es mit Helmut Scharf, der in seinem Buch Kleine Kunstgeschichte des Deutschen Denkmals (1984) schreibt: „Was Denkmal ist, hängt immer davon ab, welchen Stellenwert das herrschende oder als Tradition überkommende Bewusstsein einer spezifischen historischen und gesellschaftlichen Situation ihm beimisst.“ Dass es dabei weniger um das Bauen als vielmehr um die Art der Vermittlung, um das Nichtvergessen geht, zeigen drei Orte, mit denen mich viel verbindet. Das Haus, in dem ich wohne, steht auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Es wurde 2010 gebaut. Während an der Grenze zwischen Kreuzberg und Mitte, wo vor dem Krieg Wohnhäuser standen und 40 Jahre ein Stacheldrahtzaun spannte, eine Wunde im Stadtgefüge heilt, helfe ich häufig Mauerweg-Touristen, die nicht weiter wissen, weil die Doppelpflastersteinreihe in der Blockrandbebauung verschwindet. Ich zeige ihnen die Gedenktafel in der Sebastianstraße, die auf einen der Fluchttunnel hinweist, empfehle die Berliner Mauergedenkstätten und manchmal sprechen wir auch über meine Kindheit hinter dem eisernen Vorhang.  Ich verbrachte sie in Dresden. Manchmal ging ich mit meinem Vater an der Ruine der Frauenkirche spazieren. Er hatte die Nacht, in der sie zerstört wurde, im Luftschutzkeller verbracht. Als Schülerin zeichnete ich das stehengebliebene Portal, das aus dem Haufen dicker Sandsteinbrocken ragte. Für mich war es das wichtigste Denkmal an den 13. Februar 1945. Dann kam die Wende und mit ihr der Ruf nach dem Wiederaufbau. Plötzlich drehten sich Kräne auf dem geschichtsträchtigsten Ort meiner Kindheit, stapelten die alten schwarzen und neue helle Steine aufeinander. Mein anfänglicher Ärger über diesen Eingriff ist längst verflogen. Die wiederaufgebaute Frauenkirche ist ein beliebtes Touristenziel und kein Reiseführer verschweigt, was hier einst geschehen ist.   In Prora, an Rügens schönstem Ostseestrand, gammelt das vier Kilometer lange Bauwerk dahin, welches die Nazis als Propagandamaschine für 20.000 Urlauber gedacht hatten, und das die NVA in DDR-Zeiten als Kaserne nutzte. Die seit 1994 denkmalgeschützte Anlage, die nach Teilabriss und Sprengversuchen noch aus fünf Blöcken und einer Ruine besteht, übernahm 1992 der Bund. Dieser hat Abschnitte inzwischen einzeln verkauft. Für einen Text in der Bauwelt fuhr ich letzten Sommer in die neu eröffnete Jugendherberge in Block V. Familien mit Kindern und Jugendliche verbringen hier nun preiswerte Ferien. Ein Anfang für eine sinnvolle Nutzung ist gemacht, ohne dass die Vergangenheit verschwiegen wird. An der Rezeption werden Führungen übers Gelände angeboten, in einem anderen Gebäudeteil hat ein Dokumentationszentrum geöffnet.  Friederike Meyer, geb. 1972 in Dresden, studierte Architektur in Aachen und Seattle. Seit 2000 ist sie Redakteurin der Bauwelt.  
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Ulrike Steglich / 19.3.2013 / 12:13

Journalistin und freie Autorin, Berlin

Ja ...

… denn das ist keine Frage der Sentimentalität oder Geschichtshuberei, nicht mal eine Frage des Denkmalbewahrens. Die ist in Berlin sowieso grandios missglückt: Was in dieser Stadt an Geschichte schon alles entsorgt wurde, wäre ein Buch für sich. Die vielen Jahre, in denen ich ratlosen Touristen auf die Frage „Where ist the wall?“ nichts mehr antworten konnte, weil das Bauwerk so gründlich abgerissen worden war, waren ab 2005 endlich vorbei: Da beschloss der Senat (auf Anraten des Tourismusverbandes) schließlich doch, eine Mauergedenkstätte einzurichten. Aber wenn, dann gründlich, mit allem Drum und Dran! So sind die Deutschen. Immerhin: Wenn ich meinen Söhnen die für sie groteske Geschichte der Teilung erzählen will, kann ich das nun an der Bernauer Straße tun. Auch wenn die mittlerweile wirkt wie eine neue Schrankwand, ausstaffiert mit Reststücken.

Ich könnte ihnen auch den Katalog zeigen, in dem zu sehen ist, wie ich 1990 selbst an der „East Side Gallery“ gemalt hatte. Wie davor schon in langen Fußgängertunneln oder an Großrohren irgendwo vor Schönefeld – es war ein Heidenspaß. Gehangen habe ich an diesen Dingen nicht, Vergänglichkeit gehörte dazu. Ich mochte auch nicht unser von Graffitis übersätes East-Side-Bild wieder restaurieren. Da war nie ein Anspruch auf Ewigkeit. Die Mauer auf der Ostseite bemalen zu können, war nur eine ganz und gar spontane Befreiung. Von mir aus sollen sie nun ihre Luxuswohnungen da bauen. Es wird ja nicht wirklich den Druck vom Berliner Luxuswohnungsmarkt nehmen, aber ist doch ein adäquater Ausdruck der derzeitigen Berliner Zustände.

Was mich dagegen aufbringt, ist dieses Auftrumpfen der Bürokraten: Ja, vor zwölf Jahren wurde mal ein Bebauungsplan für das Spreeufer aufgestellt – mit einer sogenannten „Bürgerbeteiligung“, deren Verfahren niemand schöner als Douglas Adams in „Per Anhalter durch die Galaxis“ beschrieben hat: Da muss sich der Held zu den Amtsunterlagen mit einer Taschenlampe bis in den dunklen Keller durchkämpfen und riskiert dabei sein Genick. „Aber die Bekanntmachung haben Sie doch gefunden, oder?“, fragt der Beamte. „Jaja“, sagte Arthur, „Ganz zuunterst in einem verschlossenen Aktenschrank in einem unbenutzten Klo, an dessen Tür Vorsicht! Bissiger Leopard! stand.“

In zehn Jahren kann so viel passieren: Kriege bewegen Kontinente, ein Tsunami stellt die gesamte Energiepolitik in Frage, Staaten gehen pleite, ein EU-Bankrott droht und setzt neue Bevölkerungswanderungen in Gang, in Großstädten droht wieder Wohnungsnot. Nur ein über zehn Jahre alter deutscher Bebauungsplan darf nicht aufs Neue hinterfragt werden?

Bis zu jenem Tag, an dem die Bagger anrücken, hielten es weder Senat noch Bezirk für nötig, die Bürger über den aktuellen Stand des Vorhabens zu informieren. Was, bitte, ist das für ein Politik- und Demokratieverständnis?

 

 

Ulrike Steglich, geb. 1967 in Berlin, seit 1992 freie Autorin und Journalistin, war 1992-2007 u.a. Redakteurin der unabhängigen Berliner Stadtzeitung „scheinschlag“

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