"Ist es pietätlos, an einem geschichtlich belasteten Ort zu bauen?"
Ja! 33%
Nein! 67%
„Keine Luxuswohnungen auf dem ehemaligen Todesstreifen!“ – „Die Mauer darf nicht zum Gartenzäunchen von Hochhäusern werden!“ Mit Forderungen wie diesen stellten sich Tausende Protestierer gegen eine Teildemontage der EastSide Gallery am Spreeufer in Berlin-Friedrichshain. Nicht ganz klar war dabei, ob ein historisches Denkmalobjekt vor Vandalisierung beschützt oder ein als unangemessen empfundenes Bauprojekt verhindert werden sollte. Immerhin war die Protestszene hier noch vor Baubeginn erschienen. Entlang der berühmten Bernauer Straße raffte sich der Berliner Senat zu einem durchgreifenden Gedenkstättenkonzept erst auf, als im einstigen Grenzstreifen erste Neubauten schon standen. Eine einfache Zaunhecke trennt nun an der Ecke zur Strelitzer Straße eine Gruppe von familienfreundlichen Reihenhäusern von den Touristenscharen, die hier täglich tausendfach die brutale Teilungsgeschichte Berlins „hautnah erleben“ wollen.
Auch in Köln wehrt sich stadthistorische Empfindsamkeit. Anlass für Trauer und Zorn ist immer noch das eingestürzte Stadtarchiv. Als die Stadt an eben jener heiklen Stelle mit einer Schulerweiterung gleich das gesamte Viertel „neu entwickeln“ wollte, regte sich Widerstand. Dem Siegerentwurf des Wettbewerbs wird Vertuschung vorgeworfen: „Die Chance, hier einen ganz besonderen Ort zu schaffen, der Geschichte und Erinnerung mit zukünftigem öffentlichen Leben und Austausch vital verbindet, wird durch die banale Blockrandbebauung verspielt“, erklärt die Initiative ArchivKomplex kategorisch. „Auf diesem Ort“, so sieht es die Bauwelt, „lastet eine emotionale Hypothek, die alles, was hier passiert, unsensibel und banal erscheinen lässt.“
So vehement wird Rücksicht auf historische Vorbelastungen nicht immer gefordert. Dass in der KdF-FerienruineProra seit zwei Jahren erfolgreich eine große Jugendherberge betrieben wird, gilt als erlösender Befreiungsschlag für dieses Relikt der NS-Gigantomanie auf Rügen. Hermann Blankensteins „Arresthäuser“, als Haftanstalt Rummelsburg bis 1990 in Betrieb, werden seit 2008 als Berlin-Campus mit 150 „hochwertigen Wohnungen“ vermarktet: „Die meisten der roten Backsteinhäuser sind renoviert, zwischen ihnen stehen schicke neue Wohnhäuser. Nur der Wachturm ragt noch bedrohlich über die Dächer.“ Ohne Wachturm, aber kaum weniger umstritten wohnt es sich heute in jenem ordentlich sanierten Ensemble, das bis 1989 den „Geschlossenen Jugendwerkhof“ Torgau bildete. An das berüchtigte Strafkinderheim der DDR erinnern eine Gedenkstätte im Eingangsbereich sowie mehrere Informationsstelen auf dem halböffentlichen Hof.
Auch weniger politisch brisante Historiengründe können eine Wiedernutzung bestimmter Bauten und Orte fraglich werden lassen: Bei der profanen Neubespielung gemeindeloser Kirchen etwa hat man zu differenzieren gelernt: Als Bibliothek oder Kindergarten – immer gern! Als Kneipe – lieber nicht! Einem Baumaschinenhändler wurde unlängst verwehrt, am ehemaligen Berliner Grenzkontrollpunkt Dreilinden seine Bagger lagern zu dürfen. Schon wieder so ein „bedeutsamer Erinnerungsort der deutsch-deutschen Teilung“, wie die Berliner Zeitung feststellte, „und da verstehen die Denkmalschützer wenig Spaß…“.
Aber um Spaß geht es ja auch gar nicht. Wenn gegen Bauabsichten gestritten wird, geht es meistens um Respekt. Ist es also ratsam, in Anerkennung bestimmter historischer Vorkommnisse von einem Bauplatz mal die Finger zu lassen?
Diese Debatte führt als Gastredakteur der freie Kritiker und Publizist Wolfgang Kil.
Wolfgang Kil, geb. 1948, nach dem Studium in Weimar Projektant im Wohnungsbaukombinat Berlin, 1978-82 Chefredakteur der Zeitschrift „Farbe und Raum“, danach freier Autor und Kurator und 1992-94 Redakteur bei der „Bauwelt“. Seitdem ist er wieder freiberuflich als Publizist mit Arbeitsschwerpunkten DDR-Baugeschichte, demografischer Wandel, Stadtumbau und Bauen in Osteuropa tätig. Zahlreiche eigene Bücher, darunter „Luxus der Leere“ (2004) und „Das Wunder von Leinefelde“ (2007). 1997 erhielt er den Kritikerpreis des BDA.
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... denn unsere Entscheidungsprozesse werden zwar durch rationale und logische Argumente vorbereitet, unterliegen jedoch auch emotionalen und empathischen Gefühlen. Die Frage, ob an einem geschichtsbelasteten Ort gebaut werden kann, aktiviert unsere emotionalen und empathischen Sinne besonders. Dies ermöglicht uns, differenzierte Strategien wie beispielsweise Transformation, Überformung und Neuschöpfung für den Umgang mit historisch belasteten Orten zu entwickeln. Je länger die konkreten Ereignisse jedoch zurück liegen, desto mehr verblassen die Fakten und die Erinnerung der Menschen an diese, befreien sich belastete Orte von ihrer Vergangenheit.
Die Erinnerung und Bewahrung geschichtlicher Ereignisse erfolgt durch Aufarbeitung der Fakten und die Vermittlung dieses Wissens. Wird dieses Wissen an authentischen Schauplätzen mit originalen Artefakten zusammengebracht, entstehen spannende und anschauliche Inszenierungen. Dies ist nur möglich, wenn die Originalsubstanz und die Gedenkorte dauerhaft durch neue Nutzungen oder durch staatliche Zuwendungen finanziert werden.
Im Extremfall können Orte im gesellschaftlichen Bewusstsein durch ein Geschichtsereignis aber auch so negativ besetzt sein, dass sie keine Begehrlichkeiten in Bezug auf eine neue Nutzung wecken, die nicht unmittelbar der Wissensvermittlung dient. Das neue Projekt am Ground Zero in New York etwa finanziert einen Gedenkort für die Opfer des Terroranschlags vom 11. September 2001. Es entsprach nicht der Pietät und dem Selbstverständnis der Amerikaner und der Grundstückseigentümer diesen Standort insgesamt als Mahnmal und Gedenkort zu erhalten. Das Projekt ist im Gegenteil der Versuch, das Gedenken an die Opfer mit der Zukunft dieses Ortes zu verbinden und darüber hinaus ein Symbol für die amerikanische Nation zu setzen, die auch im Wahlspruch des amerikanischen Präsidenten Obama „Yes we can“ deutlich wurde.
Die Bundesrepublik Deutschland nutzt für ihre Berliner Ministerien und Dienststellen heute Gebäude aus so unterschiedlichen Zeitepochen wie Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Sozialismus und Gegenwart. Gleichzeitig wurde ein Teil des Erbes verworfen, trennte man sich aus unterschiedlichen Gründen beispielsweise vom Palast der Republik oder dem Außenministerium der DDR. Dem ganzen ging ein jahrelanger gesellschaftlicher Diskurs voran und dieser ermöglichte die Aneignung dieses gesamten Erbes deutscher Geschichte – ein Prozess, dem wir ebenso zahllose Gedenk- und Geschichtsorte verdanken.
Torsten Krüger, geb. 1963, studierte von 1983-1988 Architektur in Weimar. Nach Tätigkeit an der Bauakademie 1990 Gründung der KSV Krüger Schuberth Vandreike GmbH mit den aktuellen Units Architektur, Design und Kommunikation. KSV haben zahlreiche Wettbewerbe und Auszeichnungen gewonnen sowie Projekte in den Bereichen Markenarchitektur, Corporate-, Innen-, Ausstellungs- und Urban Design realisiert, z.B. die 1. Preise im Wettbewerb zum Bundeskanzleramt in Berlin, dem Neubau des Museums für moderne Kunst in Bozen/Italien, dem Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Warnemünde oder die internationalen Projekte für die BMW AG in Europa, Asien und Amerika.
www.ksv-network.de
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Ilka Ruby / 30.3.2013 / 7:59
Jein ...
Torsten Krüger / 30.3.2013 / 22:29
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